Urteil : lebenslänglich – sicher

Justizzentrum Wiesbaden: Wie Sicherheitsarchitektur nach Maß entsteht

„Eine moderne Justiz braucht moderne Gebäude“, erklärte der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn anlässlich der Eröffnung des Justiz- und Verwaltungszentrums. Ein weiteres PPP-Projekt, das hessenweit einzigartig ist und sämtliche ansässige Gerichte an einen Ort vereint: Amtsgericht, Landgericht, Arbeitsgericht, Verwaltungsgericht, Sozialgericht und die Staatsanwaltschaft mit ca. 800 Mitarbeitern. Öffentlichkeit zulassen, für höchste Sicherheit sorgen – wie man das plant und projektiert, zeigt Sicherheitsplaner Volker Kraiss.

Das Justizzentrum – von den Frankfurter Architekten KSP entworfen und geplant – ist Teil eines Ensembles, das mit dem „PPP-Innovationspreis“ ausgezeichnet wurde. Es besteht aus zwei parallel zueinander stehenden Baukörpern, dem Justizzentrum und einem Verwaltungszentrum. Beide Baukörper werden jeweils über einen großzügigen Haupteingang erschlossen.


Öffentlichkeit und höchste Sicherheit – ein Widerspruch?

Gewollte Öffentlichkeit und höchste Sicherheitsanforderungen – auf den ersten Blick ein Widerspruch, der aber durch das bereits im Zuge der PPP-Bewerbung frühzeitig erstellte Sicherheitskonzept zielorientiert gelöst wurde.

Es war darauf ausgerichtet, die gesetzlich vorgeschriebene Öffentlichkeit im „Öffentlichen Bereich“ der Sitzungssäle sicherzustellen und gleichzeitig die unterschiedlichen Sicherheitsanforderungen der Gerichte, besonders die des Strafgerichts und der Staatsanwaltschaft im „Nichtöffentlichen Bereich“ zu erfüllen.

Die baulichen und technischen Sicherheitsmaßnahmen wurden Planungsgrundlage für die Architekten und Planer. Die organisatorischen Maßnahmen wurden bereits in dieser frühen Planungsphase auf den späteren Dienstbetrieb abgestimmt und detailliert beschrieben. Damit war sichergestellt, dass die baulichen und technischen Maßnahmen den späteren Dienstbetrieb nicht behindern, sondern unterstützen und optimieren.


Unterschiedlichste Interessen der „Stakeholder“

Die Umsetzung des Projektes war geprägt von den unterschiedlichsten Interessen der beteiligten Stakeholder Anm. Stakeholder: natürliche oder juristische Person, die ein Interesse am Ver- lauf oder Ergebnis eines Prozesses oder Projektes hat. Auch: „Anspruchsgruppe“. Dazu gehörten das Hessische Ministerium für Justiz, die Baubeauftragten der einzelnen Gerichte (jedes Gericht ist eine völlig eigenständige Behörde), die Personalvertretungen der Gerichte, die Staatsanwaltschaft, die beteiligten Ämter der Stadt, das hessische Baumanagement, externe Berater und Dienstleister des Bauherren, die Projektgesellschaft, der Generalübernehmer für die Bauausführung, die Architekten und die Planer der einzelnen Ausbaugewerke.

Erschwerend wirkte sich aus, dass die Hard- und Software des Zutrittskontroll- und Zeiterfassungssystems vom Bauherren beigestellt werden sollte, aber die dafür erforderliche Leitungsinfrastruktur sowie die elektronischen Zylinder und die Multifunktionsausweise im Leistungsumfang des Generalübernehmers enthalten waren.

Die Planung der Sicherheitstechnik erfolgte durch den TGA-Planer auf Basis des Sicherheitskonzeptes. Bedingt durch die Trennung von Konzeption und Planung wurden im Sicherheitskonzept ein detailliertes Anforderungsprofil der Systemarchitektur des Gesamtsystems, der Sicherheitstechnik, der Schnittstellen zwischen den Subsystemen und eine detaillierte Beschreibung der gewünschten Funktionen einschließlich der Bedienoberfläche eingebunden.

Das Anforderungsprofil enthielt auch eine genaue Beschreibung der notwendigen Leistungsmerkmale des beizustellenden Zutrittskontroll- und Zeiterfassungssystems, der Transponder-/Chiptechnologie sowie der notwendigen Schnittstellen. Damit sollte sichergestellt werden, dass das Gesamtsystem später integral und homogen funktioniert (zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Informationen zu den beizustellenden Zutrittskontroll- und Zeiterfassungssystem und der Transponder-/Chiptechnologie vor).

Der Sicherheitsberater wurde vom Generalübernehmer beauftragt, das Projekt weiter zu begleiten und während der Planungs- und Bauphasen alle sicherheitsrelevanten Planungen sowohl auf Konformität zum Sicherheitskonzept zu prüfen als auch die beteiligten Architekten, Planer und ausführende Firmen sicherheitstechnisch und fachtechnisch zu beraten.


Mitbestimmungsrecht – Hürde oder Hilfe

In einem sehr frühen Stadium wurden die Behördenvertreter und die Personalvertreter über das Sicherheitskonzept und die darin enthaltenen Maßnahmen informiert. Dennoch kristallisierten sich in der Fertigstellungsphase Widerstände einzelner mitbestimmungsberechtigter Personalvertreter heraus.

Wie üblich waren davon das Zutrittskontroll- und das Zeiterfassungssystem sowie die Videoüberwachung betroffen. Ohne die Sicherheitsanforderungen aus dem Blick zu verlieren, vermittelte der Sicherheitsberater zwischen dem Dienstherren (hessisches Ministerium für Justiz), den Behördenleitern der Gerichte, den Personalvertretern der Gerichte und dem Generalübernehmer.

Es wurden einvernehmliche Lösungen im Hinblick auf die Systemparametrierung erarbeitet und umgesetzt: wann und bei welchem Anlass werden Videobilder aufgezeichnet; wie lange werden sie gespeichert; wann und an welchen Zugängen wer- den Zutrittsdaten aufgezeichnet und wann werden sie gelöscht. Die Abstimmungsergebnisse wurden Bestandteil einer neuen Personalvereinbarung.

 


Das Sicherheitskonzept – Leitlinie für Planung und Bauausführung

Das Sicherheitskonzept definierte sowohl die geschuldete Leistung der Generalübernehmers als auch die Forderungen des Auftraggebers. Alle im fortlaufenden Planungsprozess einwirkenden Planungsänderungen, Forderungen und Einflüsse wurden an dieser Sicherheitsleitlinie gemessen. Die üblichen „Verwässerungen“ im Zuge einer Planungsfortschreibung konnten so vermieden werden. Die Sicherheitsmaßnahmen orientierten sich an nachfolgendem Bedrohungsbild:

  • Angriffe auf Bedienstete, Gefangene und Zeugen
  • Versuchte Gefangenenbefreiung und Flucht
  • Körperverletzungen und Schlägereien
  • Störung des Dienstbetriebes
  • Werfen von Brandsätzen
  • Einbrüche und Diebstahl in Büros
  • Einbrüche und Diebstahl in Asservatenräumen / Archiven
  • Ausspähen von Daten und Informationen
  • Vandalismus, Sachbeschädigung einschl. Schmierereien am Gebäude

Ziel und Leitlinie der Sicherheitsmaßnahmen war es u. a.:

  • Primärschäden vorzubeugen bzw. frühzeitig zu detektieren und die Folgen eventueller Schäden durch geeignete Maßnahmen so gering wie möglich zu halten.
  • Die Sicherheitsmaßnahmen so abzustimmen, dass eine Wechselwirkung entsteht aus:
    1. Möglichst verhindern
    2. Frühzeitig erkennen und melden
    3. Umfassend zu informieren und richtiges Bewerten zu ermöglichen
    4. Rechtzeitig zu intervenieren
  • Eine kostenoptimierte Synthese aus organisatorischen, mechanischen und elektronischen Präventivmaßnahmen zu erzielen
  • Die technischen Sicherheitseinrichtungen durch geeignete personelle Maßnahmen zu unterstützen und zu ergänzen.
  • Eine anforderungsgerechte, effektive und wirtschaftlich vertretbare Notfallvorsorge einzurichten, die den Betriebsablauf des Justizzentrums aufrecht erhält.
  • Den Ausfall der betriebstechnisch notwendigen Systeme wirkungsvoll zu verhindern bzw. auftretende Störungen und Schäden frühzeitig zu erkennen und durch gezielte Schutz- und Abwehrmaßnahmen in ihren Auswirkungen begrenzen.
  • Durch geeignete Instandhaltungsmaßnahmen die Effektivität der technischen Sicherheitseinrichtungen zu erhalten.

Für die einzelnen Funktionsbereiche und in Abhängigkeit zum Schutzgrad und den funktionalen und organisatorischen Abläufen im Dienstbetrieb wurden Sicherheitszonen gebildet. Für die sich ergebenen Sicherungslinien wurde die Qualität und Ausführung der baulichen, technischen und organisatorischen Maßnahmen bestimmt. Das Flächenlayout wurden auf die Sicherheitsanforderungen und die identifizierten Risiken abgestimmt. Innerhalb des Gebäudes gab es vier grundsätzliche Gruppen von Sicherheitszonen:

  • Der unkontrollierte und öffentliche Bereich der frei zugänglichen Eingangshalle (während der Geschäftszeit)
  • Der kontrollierte Bereich für die Öffentlichkeit und die Besucher
  • Die kontrollierten Sonderbereiche für den allgemeinen Dienstbetrieb und die Verwaltung
  • Die kontrollierten Sonderbereiche mit höchsten Sicherheitsanforderungen (z.B. Sicherheitsleitstände, Präsenzzellen, Gefangenenwege, Asservatenbereiche, Technikbereiche mit zentraler Infrastruktur, Gerichtskasse usw.)

Die Sicherungslinie vom unkontrollierten und öffentlichen Bereich zum kontrollierten Bereich wurde quer durch die Eingangshalle ausgebildet. Der Zugang für die Mitarbeiter erfolgt über Vereinzelungsanlagen in Kombination mit Ausweislesern. Der Zugang für die Öffentlichkeit und Besucher erfolgt über personenbesetzte Zugänge in Kombination mit Metalldetektoren und einer Röntgenanlage für Taschen und Handgepäck. (Weitere Details der Sicherungsmaßnahmen können aus verständlichen Gründen nicht beschreiben werden).


Flucht verhindern – Rettung ermöglichen

Ähnlich wie bei Justizvollzugsanstalten mussten zwei gegensätzliche Forderungen umgesetzt werden: Gefangenenflucht und Missbrauch zu verhindern und Rettung bei Gefahr sicherstellen.

Nach Zustimmung der beteiligten Behörden wurde im Vorgriff auf die zukünftig europaweit geltende Norm EN13637, die Regelung zur zeitverzögerte Freischaltung der, im gefährdeten Bereich liegenden, Türen angewendet.

 

Das integrierte Sicherheitssystem

Das integrierte Sicherheitssystem kommuniziert über ein Security-LAN. Den Subsystemen ist ein Gefahrenmanagementsystem (GMS) mit einer einheitlichen Bedienoberfläche übergeordnet. Die Leitstellen können individuell als Hauptarbeitsplätze, Ersatzarbeitsplätze oder als Rückfallebene bestimmt werden. Nachfolgende Subsysteme sind an das Gefahrenmanagement angebunden.

  • Zutrittskontrollsystem
  • Videoüberwachungssystem
  • Einbruchmelde- und Notrufanlagen
  • Fluchtwegsicherungssystem
  • Gegensprech-/Türsprechanlage
  • Zellenrufanlage
  • Gebäudeleittechnik
  • Brandmeldeanlage


Zutrittskontrolle und Zeiterfassung  – die etwas andere Systemarchitektur

Die vom Land Hessen beigestellten und getrennt betriebenen Systeme für Zutrittskontrolle und Zeiterfassung werden über zwei Netzwerke betrieben.

Zutrittskontrollzentralen mit Ausweisleser sowie die Zeiterfassungsterminals sind an das Security-LAN angebunden, die Applikationsserver für Zutritt und Zeit und die Arbeitsplatzrechner sind an das Netzwerk (Intranet) der Gerichte angebunden.

Beide Netzwerke sind über eine Firewall verbunden. Für jedes Gericht wurden getrennte, webbasierte Arbeitsplätze für Zutritt und Zeit eingerichtet. Die Infrastruktur des Sicherheitssystems wurde an den Türen so konzipiert, dass die beigestellten Zutrittskontrollzentralen und Ausweisleser rückwirkungsfrei und unter Berücksichtigung der Gewährleistungsabgrenzung problemlos angeschlossen werden konnten.


Wunsch und Wirklichkeit – Türenengineering

Werkplanung, Lieferung, Montage und Anschluss der Türen und der Türtechnik sollte wie üblich durch die beteiligten Nachunternehmer erfolgen.

In der fortgeschrittenen Bauphase zeigte sich aber, dass besonders bei den vielen Türen mit hochkomplexen Eigenschaften, Anforderungen, Ausstattungen und Funktionen wie Brand- und Rauchschutzeigenschaften, Einbruch- und Durchbruchhemmung, Beschusshemmung, Barrierefreiheit, Motorantrieben, Einbruchmelde- und Zutrittskontrolltechnik, Flucht- und Rettungswegtechnik, Schloss- Beschlag- und mechanischer oder elektronischer Zylindertechnik usw., eine Gewerke übergreifende Ausführungsplanung fehlte.

Die manuelle Bearbeitung der Türen durch jedes betroffenen Gewerk war extrem zeitaufwändig und beinhaltet ein hohes Fehlerrisiko für alle Planungsbeteiligten und den Generalübernehmer.

Datenbankbasierte Softwarelösungen, sogenannte Türlistenmanager, mit hohem Bearbeitungskomfort, einer Gewerke übergreifenden Bearbeitung mit Berücksichtigung aller funktionalen, baulichen, technischen und sicherheitstechnischen Sonderanforderungen, sind heute zwar verfügbar, standen zum Zeitpunkt der Planung aber noch nicht zur Verfügung.

Aus diesem Grund wurde der Sicherheitsberater mit der Gewerke übergreifenden Türplanung beauftragt. Er sollte sicherstellen, dass

  • die Türen richtig gebaut und auszurüstet werden
  • die vielfältigen funktionalen, sicherheitstechnischen Anforderungen erfüllt werden
  • verbindliche Planungs- und Ausführungsunterlagen erstellt werden
  • die Leistungsschnittstellen der beteiligten Gewerke/Nachunternehmern eindeutig geklärt und festgelegt werden

Im Ergebnis entstanden über 50 unterschiedliche Türtypen. Pro Türtyp wurden nachfolgende Details erarbeitet:

  • Türtyp und bauliche Ausführung
  • Gerätetechnische Ausstattung von Türblatt und Türzarge
  • Verkabelungs- und Verdrahtungsschema
  • Spannungsversorgung der unterschiedlichen Systeme
  • Erforderliche Funktionen und Meldungen
  • Signalfluss zur Ansteuerung der Tür von und zu ZKS, GMS, FWS, GSA,FSA und Türtaster
  • Signalfluss der Meldungen und Türzustände

Fazit:
Öffentlichkeit und Sicherheit ist kein Widerspruch. Das Justizzentrum in Wiesbaden ist ein zukunftsweisendes Beispiel für eine moderne Justiz in einem modernen Gebäude mit einer unaufdringlichen aber wirkungsvollen Sicherheitsarchitektur.

 

Dieser Fachbeitrag ist in der GIT Sicherheit + Management 1–2/2012 erschienen. Autor: Volker Kraiss